LangBiografie
Otto Witte
19.03.1884 – 19.09.1963
19.03.1884 – 19.09.1963
Der in Halberstadt geborene, 1904 der sächsischen SPD und der dortigen Gewerkschaft beigetretene Gärtner qualifizierte sich beruflich und außerberuflich ständig weiter, weshalb er bereits von 1909 bis 1912 in Frankfurt am Main als hauptamtlicher Bezirksleiter des freigewerkschaftlichen Allgemeinen Deutschen Gärtner-Vereins und anschließend als Arbeitersekretär in Wiesbaden verpflichtet werden konnte. Hier wirkte er dann außerdem als Vorsitzender des Bildungsausschusses und der Kinderschutzkommission. Nach dem Ersten Weltkrieg, an dem er seit 1915 als Frontsoldat teilgenommen hatte, gehörte er sogleich dem ersten demokratisch gewählten Wiesbadener Stadtparlament an, dies auch als Vorsitzender der SPD-Fraktion bis 1924. Beschäftigt war er zu jener Zeit als Landesrat bei der Bezirks-Kommunalverwaltung der preußischen Provinz Hessen-Nassau. Von 1920 bis 1925 engagierte Witte sich überdies als Mitglied des Nassauischen Kommunallandtags des preußischen Regierungsbezirks Wiesbaden bzw. des hessen-nassauischen Provinziallandtags für den Stadtkreis Wiesbaden. Darüber hinaus war er seit Mitte der 1920er-Jahre stellvertretender preußischer Bevollmächtigter beim Reichsrat, der Ländervertretung im damaligen Deutschen Reich, und seit 1926 gehörte er auch dem Deutschen Reichstag an. Gegen den so genannten Preußenputsch von Reichskanzler Franz von Papen, d. h. gegen dessen verfassungswidrige Amtsenthebung der seit kurzem nur noch geschäftsführend amtierenden preußischen Regierung unter dem SPD-Ministerpräsidenten Otto Braun vom 20. Juli 1932 erhob Witte scharfen, gleichwohl vergeblichen Protest.
Schon in jenen Jahren war Otto Witte, der etliche Zeit auch dem Bezirksvorstand der SPD in Hessen-Nassau angehörte und dem 1927 zudem der Vorsitz der Wiesbadener SPD anvertraut worden ist, deren unumstrittene Führungspersönlichkeit. Hauptsächlich machte er sich stark für das Wohlfahrts- und Fürsorgewesen sowie die Kriegsbeschädigten- und Kriegshinterbliebenenbetreuung, auch für den Ortsausschuss der Arbeiterwohlfahrt, der Anfang 1923 seine Arbeit aufnahm. Nicht minder legte er sich ins Zeug für die Fortbildung der SPD-Mitglieder durch politische Schulungskurse, Vortragsveranstaltungen und die Einrichtung einer Parteibuchhandlung neben der schon bestehenden Parteibibliothek. Gegen die sich binnen weniger Jahre dramatisch forcierenden antidemokratischen Bestrebungen politischer Kräfte verschiedenster Couleur wurde von der SPD mit Parolen wie „Freiheit, Gleichheit, Völkerfrieden“, „Sieg der Freiheit“ oder auch „Vorwärts im Kampf für den Sozialismus“ versucht, die noch junge erste deutsche Demokratie vor ihrer Zerstörung zu bewahren.
Vor der gerade von der NSDAP ausgehenden Gefahr hat Witte wiederholt und stets mit größtem Nachdruck gewarnt. So erklärte er beispielsweise am 17. Juli 1932 auf einer Großkundgebung der erst Ende des Vorjahres gegründeten Republikschutzorganisation Eiserne Front auf dem Festplatz an der Lahnstraße vor 3.000 Menschen, bei der bevorstehenden Reichstagswahl am 31. Juli falle die Entscheidung, „ob Deutschland eine Kaserne hinfort oder ein Volksstaat sein“ werde; es gehe um nichts weniger als „um die Freiheit“. Bald darauf, am 2. November 1932, fand im Paulinenschlösschen an der Sonnenberger Straße mit ihm und dem kurz zuvor im Zuge des „Preußenputsches“ abgesetzten Berliner Polizeipräsidenten Albert Grzesinski als Rednern eine weitere jener so zahlreichen prorepublikanischen Veranstaltungen statt; auch bei dieser, unter dem Leitspruch „Gegen Papen, Thälmann und Hitler. Für sozialistische Volksherrschaft“ durchgeführten Kundgebung wurde zur Stimmangabe für die SPD aufgerufen, nämlich bei der vier Tage später stattfindenden zweiten Reichstagswahl in jenem Jahr. Und am 10. März 1933 warnte Witte zusammen mit Konrad Arndt von der lokalen Kampfleitung der Eisernen Front im Paulinenschlösschen abermals eindringlich vor der sich nun immer deutlicher abzeichnenden NSDAP-Diktatur und rief die dort versammelten Bürgerinnen und Bürger auf zur Stimmabgabe für eine der demokratischen Parteien bei der zwei Tage darauf anstehenden Kommunalwahl. Dies war überhaupt die einzige Kundgebung, welche die SPD noch unmittelbar vor der Reichstagswahl am 5. März sowie jener mit der Wahl zum Kommunallandtag kombinierten Stadtverordnetenwahl eine Woche später hat durchführen dürfen. Witte ist damals in der NS-Presse unverhohlen die Ermordung angedroht worden, und zwar mit den Worten: „Armer Witte! Bald wird man auf deinem Grabe drei Pfeilchen setzen …“, womit auf das Kampfsymbol der Eisernen Front angespielt wurde.
Obgleich die NSDAP bei jenen letzten Kommunalwahlen ihr Ergebnis hierorts auf horrende 48,5 Prozent hatte steigern können, ließ sich Otto Witte davon nicht beeindrucken und setzte seinen Kampf für die bereits in Agonie befindliche Weimarer Republik unverdrossen fort. Es war für ihn daher ganz selbstverständlich, am 23. März zusammen mit seiner Reichstagsfraktion gegen das „Ermächtigungsgesetz“ zu votieren, das so genannte Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich, während alle anderen Parteien diesem antidemokratischen Machwerk zustimmten; die KPD-Parlamentarier, denen man drei Tage nach der Reichstagswahl vom 5. März 1933 rechtswidrig ihre Mandate entzogen hatte, befanden sich längst in Haft oder auf der Flucht, genauso wie dies 26 der insgesamt 120 Abgeordneten der SPD.
Auch Wittes SPD-Reichstagskollege Heinrich Georg Ritzel aus dem benachbarten Wahlkreis 33 (Hessen-Darmstadt) ist wenig später nach kurzzeitiger KZ-Haft in Oranienburg bei Berlin in den antinazistischen Untergrund abgetaucht, dann aber Mitte April in Wiesbaden auf offener Straße zusammengebrochen, Folge fraglos der ihm während seiner Inhaftierung zugefügten Blessuren. Deshalb wurde er unverzüglich in das damalige Hospiz zum Heiligen Geist in der Friedrichstraße gebracht. Als Ritzel zwei Monate später ins KZ Dachau überführt werden sollte, sorgte Otto Witte zusammen mit einigen seiner Wiesbadener Genossen dafür, dass der inzwischen in jenem Hospiz Arretierte den NS-Schergen gerade noch rechtzeitig ins Exil entkommen konnte. Witte war es außerdem zu verdanken, dass der am 24. März 1933 bei einem tätlichen SA-Überfall lebensgefährlich verletzte Gewerkschaftsführer und SPD-Stadtverordnete Konrad Arndt ebenfalls umgehend in eine Klinik eingeliefert wurde und so überlebte. Auch in den nächsten Jahren wurde vielen vom NS-Regime politisch Verfolgten und deren Angehörigen die selbstlose Unterstützung der Familie Witte zuteil.
Auch nachdem er aufgrund des so genannten Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 als Landesrat entlassen und unter Polizeiaufsicht gestellt worden war und trotz aller sonstigen gegen ihn und seine Familie gerichteten Repressalien engagierte sich Witte weiterhin couragiert gegen den Faschismus. Wegen seines hohen Bekanntheitsgrades nicht nur hierorts musste er aber dabei besondere Vorsicht walten lassen. Daher blieb er auch nur äußerst behutsam in das informationelle antinazistische Kontaktnetz eingebunden, mit dem sein Parteifreund Georg Buch den Zusammenhalt einiger vormals führender Gesinnungsfreunde aufrechtzuerhalten suchte, um mit diesen zu gegebener Zeit die von ihnen allen heiß herbeigesehnte Wiederherstellung der Demokratie möglichst zügig bewerkstelligen zu können.
Zwölf Haussuchungen und fast doppelt so viele vorübergehende Festnahmen bzw. Inhaftierungen musste er vor und nach seiner Ausweisung aus der Provinz Hessen-Nassau nach Hamburg im Jahr 1937 über sich und die Seinen ergehen lassen. In der Hansestadt wurde er als Aushilfskraft beim Landwirtschaftsamt dienstverpflichtet, nachdem er an der Verwaltungsakademie der dortigen Universität vier Semester lang Vorlesungen zu Staats- und Kommunalwissenschaften hatte besuchen dürfen. Dann erfolgte im August 1944 im Zuge der Aktion „Gewitter“ seine letztmalige Verhaftung, dies allein deshalb, weil er nach wie vor ein bekannter SPD-Funktionär war, nicht etwa weil ihm regimefeindliche Aktivitäten hätten nachgewiesen werden können. Zunächst inhaftiert im Zuchthaus im Hamburger Stadtteil Fuhlsbüttel, wurde er anschließend im berüchtigten dortigen KZ weiterhin drangsaliert, bis ihn im April 1945 Soldaten der britischen Armee endlich befreiten.
In Hamburg erreichte Witte recht bald die Nachricht seiner Frau Ida, er möge doch auf Wunsch seiner Parteileitung bald nach Wiesbaden zurückkehren, um bei der demokratischen Reorganisation der Verwaltung des Landes wie auch seiner Partei zu helfen. Eigentlich hatte er in Hamburg bleiben wollen, wo ihn die britische Besatzungsmacht mit dem Posten des Senators für Wohlfahrt und Fürsorge betrauen wollte. Doch der Ruf aus seiner nassauischen Wahlheimat obsiegte, und er stürzte sich hier sofort wieder in die Arbeit. Umgehend wurde er als Regierungsdirektor beim Regierungspräsidenten eingestellt und wirkte 1945 in dieser Funktion u. a. mit im engeren Arbeitsausschuss des basisdemokratisch gebildeten Aufbau-Ausschuss Wiesbaden, danach auch in dem diesem im Herbst jenes Jahres nachfolgenden, paritätisch besetzten Bürgerrat, die sich beide als – wie es explizit hieß – „Vertretung der antinationalsozialistischen Kräfte“ der Stadt verstanden. Auch erneut als Landesrat sowie als Landeshauptmann war Witte in jener Phase des demokratischen Neubeginns aktiv, desgleichen vor allem als Vorsitzender des Geschäftsführenden Ausschusses des Beratenden Landesausschusses, durch dessen vorbereitende Verfassungskommission am 18. Juni 1946 der „Entwurf einer Verfassung für Hessen“ vorgelegt wurde, sodann als Präsident der Verfassungberatenden Landesversammlung Groß-Hessen sowie schließlich von 1946 bis 1954 zudem als Präsident des Hessischen Landtags. 
Die am 29. Oktober 1946 von der Verfassungberatenden Landesversammlung in der Aula der damaligen Wiesbadener Gewerbeschule, dem jetzigen Gemeinschaftszentrum Georg-Buch-Haus in der Wellritzstraße 38, unter ihrem Präsidenten Otto Witte beschlossene und durch den zusammen mit der ersten Landtagswahl durchgeführten Volksentscheid am nachfolgenden 1. Dezember angenommene Verfassung des Landes Hessen zeigt eindrucksvoll, wie sehr die damaligen Vorkämpfer und Vorkämpferinnen unserer heutigen Demokratie die Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Republik ein für alle Mal zu ziehen gewillt gewesen sind: So legten sie beispielsweise in Artikel 150 der Verfassung kategorisch fest: „Die Errichtung einer Diktatur, in welcher Form auch immer, ist verboten“, und „die demokratischen Grundgedanken der Verfassung und die republikanisch-parlamentarische Staatsform“ dürften auch durch „keinerlei Verfassungsänderung“ angetastet werden.
Darüber hinaus sei es, so Artikel 146, „Pflicht eines jeden, für den Bestand der Verfassung mit allen ihm zu Gebote stehenden Kräften einzutreten“. Und nicht minder unmissverständlich heißt es bis heute in Artikel 147: „Widerstand gegen verfassungswidrig ausgeübte öffentliche Gewalt ist jedermanns Recht und Pflicht.“
Für seine vielfältigen Verdienste um unsere Demokratie wurde Otto Witte von der Frankfurter Goethe-Universität zu ihrem Ehrenbürger ernannt. Von Bundespräsident Prof. Dr. Theodor Heuss wurde er mit dem Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Und die Landeshauptstadt Wiesbaden ehrt ihn mit der Benennung einer Straße im Stadtteil Klarenthal.
Dr. Rolf Faber
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Otto Witte
Reichstags-Handbuch, IV. Wahlperiode, Berlin 1928, S. 502
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Büste von Otto Witte im Hessischen Landta (Foto: Faber)
Archiv des Hessischen Landtags
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Hessischer Landtag, Inventarnummer RG 100071 / Dr. Rolf Faber, Wiesbaden
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