Welche weiteren Wiesbadener NS-Gegner in die „20. Juli“-Aktivitäten
einbezogen gewesen sind bzw. diese sogar als deren Anführer unablässig
vorangetrieben haben, lässt sich also nur in Einzelfällen mit Gewissheit
sagen: Ganz ohne Frage gilt dies für den 1938 aus Protest gegen Hitlers
Kriegskurs als Generalstabschef des Heeres zurückgetretenen, dabei aber
noch zum Generalobersten beförderten gebürtigen Biebricher Ludwig Beck;
dieser gehörte zusammen mit dem früheren Leipziger Oberbürgermeister Dr.
Carl Goerdeler, mit Wilhelm Leuschner, Dr. Leber, Jakob Kaiser und
etlichen anderen entschlossenen Zivilisten sowie schließlich auch mit
dem Hitler-Attentäter Oberst Claus Graf Schenk von Stauffenberg zu den
wichtigsten Anführern der gesamten zivil-militärisch kombinierten
Widerstandsbewegung überhaupt und hätte nach einem erfolgreichen Umsturz
das Amt des Staatsoberhaupts übernehmen sollen. Hauptmann Hermann Kaiser
war von den Verschwörern für die unmittelbare Umsturzphase als
Verbindungsoffizier im Wehrkreis XII Wiesbaden vorgesehen und
anschließend als Staatssekretär im neuen Kulturministerium im Gespräch;
er informierte beispielsweise seinen hiesigen Freund Dr. Rudolf von
Ibell, den Sohn des früheren Wiesbadener Oberbürgermeisters Dr. Carl von
Ibell, am 16. Juli 1944 in einem konspirativ verschlüsselten Brief von
der in Kürze bevorstehenden Aktion gegen Hitler und dessen Diktatur.
Wenngleich Hauptmann Kaiser und Beck ebenso wie Dr. Goerdeler und
Stauffenberg vordem noch nur als rückwärtsgewandt zu bezeichnende
politische Vorstellungen gehegt hatten, so waren sie doch mit der Zeit
und sicherlich nicht unbeeinflusst durch Leuschner und seine Mitstreiter
zur einhelligen Überzeugung gelangt, dass – so hat es jedenfalls Hermann
Kaiser in seinem Tagebuch festgehalten – nach dem Umsturz eine „freie
Regierung mit eigener selbstgewählter Verfassung“ vonnöten sei. Während
die beiden Brüder Dr. Otto John und Dr. Hans John genauso wie Beck und
Hauptmann Kaiser ihre Widerstandsaktivitäten in Berlin bzw. vorwiegend
dort entfalteten, ist Oberleutnant Dr. Fabian von Schlabrendorff, ein
weiterer wichtiger Netzwerker des „20. Juli“-Widerstandes mit
Wiesbaden-Bezug, der bereits 1943 an einem Attentatsversuch auf Hitler
beteiligt gewesen war, häufig als Kurier zwischen den oppositionellen
Militärs an der Ostfront und jenen im Heimatheer im Einsatz gewesen. In
unserer Stadt war in das Umsturzvorhaben mit Bestimmtheit der .jpg)
Chef des
Generalstabes Generalmajor Erwin Gerlach eingeweiht, den aber an jenem
Donnerstagabend die diesbezüglichen Befehle aus der Berliner Zentrale
der Verschwörung zu spät erreicht haben. Außer Gerlach soll vor Ort
mindestens noch der Kern der sogenannten Führerreserve in die
Staatsstreichpläne eingeweiht gewesen sein. Auch mehrere standrechtliche
Erschießungen in den Tagen nach dem 20. Juli 1944, von denen Zeitzeugen
berichteten, lassen darauf schließen, dass jener Konspiration in
Wiesbaden noch weitere Regimegegner angehört hatten, deren Identität
jedoch nicht mehr zu ermitteln ist.
Neben diesen allesamt prononciert politisch motivierten
Widerstandsformen – auch die oppositionellen Militärs hatten letztlich
Beweggründe solcher Art – gab es im Bereich der beiden Großkirchen auch
etliche Beispiele für Proteste gegen die sich mit den Jahren zunehmend
radikalisierende Gleichschaltungs- und Verfolgungspraxis des NS-Regimes.
In manchen Fällen lassen sich diese durchaus als Vorformen politischen
Widerstandes bezeichnen. So sorgte bei den Katholiken ein eigens
eingerichteter illegaler Kurierdienst für die Verbreitung einer Vielzahl
regimekritischer Verlautbarungen, wobei sich gerade jüngere
Gemeindemitglieder besonders engagiert haben. Die Bekennende Kirche,
eine von dem Berlin-Dahlemer Pastor D. Martin Niemöller und etlichen
anderen recht früh initiierte innerkirchliche Oppositionsströmung, der
schon bald über ein Drittel aller in ganz Deutschland aktiven
protestantischen Pfarrer angehörte, konnte sich in unserer Stadt auf
eine Anhängerschaft von zunächst mehreren Hundert, später sogar einigen
Tausend Gläubigen stützen. Wenngleich es hier wie dort nur in sehr
seltenen Fällen zur grundsätzlichen politischen Zurückweisung des
„Dritten Reiches“ als totalitäres Herrschaftssystem in toto gekommen
war, so wurde doch durch die ständige NS-Überwachung aller Aktivitäten
sämtlicher evangelischen und katholischen Geistlichen schon nach kurzer
Zeit immer öfter festgestellt, dass ihre Gottesdienste und andere
Veranstaltungen mittlerweile verstärkt selbst von eher kirchenfernen
Anhängern der SPD und der KPD besucht wurden. Gegen den Erbenheimer
Pfarrer Erich Weber war Ende 1936 allein deshalb Anklage erhoben worden,
weil er einigen seiner früheren Konfirmanden verschiedentlich kleinere
Geldbeträge zur Unterstützung nun völlig mittelloser Frauen und Kinder
inhaftierter Kommunisten hatte zukommen lassen; Weber hatte aber Glück
im Unglück und kam nach halbjähriger Untersuchungshaft ohne Verurteilung
wieder frei. Der erst nach dem Krieg nach
Wiesbaden gezogene, früher
deutschnational-völkisch und mehr noch profaschistisch positionierte
Pastor D. Martin Niemöller, der am 29. Juni 1937 auf Einladung der
Bekennenden Gemeinde in der Marktkirche und der Ringkirche drei gut
besuchte Vorträge zur kirchlichen Lage gehalten hatte, war zwei Tage
später in der Reichshauptstadt verhaftet und im folgenden Frühjahr wegen
seines jahrelangen regimekritischen Engagements zu einer Geldstrafe
sowie zu einer durch die Untersuchungshaft freilich bereits verbüßten
mehrmonatigen Festungshaft verurteilt worden; er wurde noch vor dem
Gerichtssaal von der Gestapo erneut verhaftet und musste die folgenden
sieben Jahre als „persönlicher Gefangener des Führers“ u. a. in den
Konzentrationslagern Sachsenhausen und Dachau darben. In jenem
berüchtigten KZ nordwestlich von München endete Anfang 1945 das Leben
von Dr. Hans Buttersack, der sich bis zu seiner Verhaftung zwei Jahre
zuvor als beherzter Rechtsbeistand nicht nur für die hiesige
Bekenntnisgemeinde, sondern zudem für Juden und andere NS-Verfolgte
verwandt hatte. Auch der Biebricher Josef Leber, um noch ein weiteres
Beispiel für antinazistische Gegnerschaft aus dem kirchlichen Bereich
anzuführen, seit 1933 Mitglied des von den Machthabern inzwischen
allerdings aufgelösten Katholischen Jungmänner-Verbandes, war 1941
während seiner achtmonatigen Inhaftierung wegen einer von ihm im selben
Jahr angeführten, spontanen NS-feindlichen Protestmanifestation in einem
zuvor der katholischen Jugendseelsorge dienenden, nun aber von der
Hitler-Jugend genutzten Heim mehrfach massiven Misshandlungen
ausgesetzt; er ist 1943 mit nur 19 Jahren in der Sowjetunion gefallen.
Am Aufbegehren gegen kirchenfeindliche Maßnahmen des Regimes waren
selbstverständlich auch viele Frauen beteiligt, wofür hier beispielhaft
auf die beiden im Büro der Wiesbadener Bekennenden Kirche im Hof des
damaligen Evangelischen Hospizes und Vereinshauses in der Platter Straße
2 beschäftigten, ebenfalls gänzlich unerschrockenen Sekretärinnen Paula
Herz und Else Bing hingewiesen wird. Für die KPD operierte im
Wiesbadener Westend anfänglich sogar eine eigenständige Frauengruppe;
ansonsten waren an den konspirativen Aktivitäten dieser Partei überhaupt
viele Frauen beteiligt, ob nun bei der Herstellung und Verbreitung von
antinazistischem Schriftmaterial, durch klandestine Kurierdienste, beim
Sammeln und Weiterreichen von Unterstützungsgeldern und Lebensmitteln
oder bei der Beschaffung bzw. Zurverfügungstellung immer wieder zu
wechselnder illegaler Quartiere für verfolgte Gesinnungsgenossen. Auch
aus rein humanitären, nur vermeintlich unpolitischen Motiven haben sich
manche Frauen für NS-Verfolgte engagiert. So hatte Elisabeth Ritter vom
gleichnamigen, „Unter den Eichen“ gelegenen Ausflugslokal den
1944/45 im
benachbarten KZ-Außenkommando des SS-Sonderlagers Hinzert inhaftierten,
zumeist aus Luxemburg stammenden politischen Häftlingen Unterstützung
vielfältiger Art zukommen lassen. Als diese kurz vor Eintreffen der
US-Kampftruppen noch auf einen Todesmarsch nach Frankfurt-Heddernheim
kommandiert wurden, konnten einige KZler sich absetzen und durften sich
bis zu ihrer Befreiung im Café Ritter verborgen halten. Auch manch
andere Beispiele solcher für die Helfer selbst stets höchst riskanten
Hilfeleistungen für NS-Verfolgte sind keineswegs nur aus der Endphase
des „Tausendjährigen Reiches“ überliefert. Überaus rar sind Hinweise auf
nichtjüdische Deutsche, die jüdischen Familienangehörigen, Freunden,
Nachbarn oder Kollegen zum Überleben verholfen haben.
Herkunft der Bildquellen
Abb 6.jpg
Wiesbadener Mitverschwörer des Umsturzversuchs vom 20. Juli 1944
Stadtarchiv Wiesbaden, NL 75, Nr. 206
Abb 7 (1).jpg
Aus dem Todesurteil des „Volksgerichtshofs“ gegen Hermann Kaiser und Busso Thoma, 17. Januar 1945
Bundesarchiv Koblenz, NS 6/22
Abb 7 (2).jpg
Aus dem Todesurteil des „Volksgerichtshofs“ gegen Hermann Kaiser und Busso Thoma, 17. Januar 1945
Bundesarchiv Koblenz, NS 6/22
Abb 8.jpg
None
Stadtarchiv Wiesbaden, NL 1, Nr. 114
Abb 9.jpg
Politische Häftlinge aus Luxemburg im KZ-Außenlager „Unter den Eichen“, 1944 aufgenommen mit einer illegal ins Lager geschmuggelten Kamera
Stadtarchiv Wiesbaden, NL 75, Nr. 3093